„Heute und dann auch im Sommer“

Das waren die Vorgaben zur Geschichte – „Heute und dann auch im Sonmer“
-> So sollte es werden

Das sagte der Kunde nach dem Lesen der Geschichte: Mein Sohn hat sie schon drei mal gelesen und möchte am liebsten, dass ich gleich noch eine bestelle. Und er hat das Buch schon eingepackt für unseren Urlaub – wir fahren schließlich ans Meer:)

Und hier nun die Geschichte selbst:

Heute und dann auch im Sommer

Eines Tages ging ein kleiner Junge durch die Straßen von Friedrichshain. Er war auf dem Weg von der Schule nach Hause. Eigentlich war dieser Weg nicht lang; der kleine Junge kannte ihn gut. Heute jedoch schien es schwieriger, diesen Weg zu laufen. Es war nicht, dass etwas Schlimmes in der Schule passiert war, oder dass der kleine Junge nicht nach Hause wollte; es war nur so, dass der kleine Junge seit kurzem zwei Zuhause hatte.

Der kleine Junge, wir wollen ihn Flavio nennen, lief also eher langsam durch die Straßen Friedrichshains und überlegte an jeder Ecke erneut, ob er weiter geradeaus gehen sollte, hin zu Papas Wohnung, wie verabredet, oder doch lieber zu der neuen Wohnung, wo Mama jetzt wohnte. Das war schon eine schwierige Entscheidung.

Kein Wunder also, dass Flavio immer langsamer lief, mit den Füßen schlürfte und manchmal gar stolperte und stehenblieb. In Papas Wohnung – wir wollen den Papa Philip nennen, denn so tat Flavio es auch – war alles vertraut. Nur fehlten jetzt viele der Möbel, viele der Sachen. Die standen jetzt in Mamas Wohnung (und die Mama nennen wir am besten Kad, denn so tat Flavio es).

Kads Wohnung war neu und aufregend, fand Flavio. Sie hatte auch einen Balkon und lag gleich in der Straße, wo sein kleiner Bruder Malte zur Welt gekommen war. Nur der Philip fehlte eben.

Flavio seufzte. Dann bemerkte er, dass er schon wieder stehengeblieben war, mitten auf dem Gehweg und mit einem Fuß gleich neben einem Haufen Hundekacke.

„Das war aber knapp“, sagte Flavio und hob seinen Fuß, um auf die Sohle zu gucken, ob sie nicht doch etwas abgekriegt hatte. Das hatte sie nicht, aber die nächsten Meter achtete Flavio sehr auf den Gehweg. So kam es, dass er den Ball bemerkte.

Der Ball lag nicht mitten auf dem Gehweg, wie zuvor der Haufen Hundekacke; der Ball lag im Gebüsch. Unter einem Busch lugte er hervor, leuchtete er hervor. Der Ball schien Flavio zu rufen.

Es war kein sehr großer Ball. Wenn er wollte, könnte Flavio ihn in einer Hand halten. Das wollte er aber nicht, denn der Ball sah so aus, als ob er brannte.

Das ist unmöglich, dachte Flavio. Ein Ball kann nicht brennen und doch ein Ball sein. Von außen war der Ball nämlich nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Gummiball, ein roter Gummiball mit weißen Punkten.

Wie ein Fliegenpilz, dachte Flavio. Fliegenpilze kannte er, die waren giftig. Man konnte sie ansehen und aufheben, aber nicht essen.

Konnte er den Ball aufheben?

Flavio ging zum Gebüsch und hockte sich hin. Vergessen war seine Traurigkeit; jetzt interessierte ihn der Ball viel mehr als die Frage, zu welcher Wohnung er gehen sollte. Und sowieso zog Philip bald in dasselbe Haus, in dem Kad jetzt wohnte. Da war eine zweite Wohnung frei geworden, und bald würde er sich erst im Treppenhaus entscheiden müssen, wohin er wollte. Kad. Philip. Der Ball.

Im Inneren des Balls brannte es wirklich.

Das geht doch gar nicht, dachte Flavio erneut. Aber als er so schaute, sah er es ganz genau, sah Flammen lodern, sah Feuer, sah Rauch, sah den Ball innen rußig beschlagen. Und noch etwas war da – nicht nur Feuer und Flammen, sondern etwas, das sich bewegte. Ein Lebewesen.

Hilfe, dachte Flavio. Das will sicher da raus. Ich helf ihm.

Und ohne weiter zu überlegen, griff Flavio nach dem Ball, hob ihn hoch und versuchte ihn aufzubrechen. Der Ball war heiß. „Aua!“, rief Flavio und schleuderte den Ball von sich. „Aua!“, rief er noch mal und rieb sich die Hände. Dann schaute er hoch, nach dem Ball. Der Ball lag auf dem Gehsteig und brannte noch immer. Flavio war wütend. „Ich wollte dir helfen!“ rief er, ging zum Ball und kickte ihn so doll er nur konnte. Der Ball rollte ins Gebüsch. „Nein!“, rief Flavio und rannte hinterher. „Ich wollte nett sein, und du–“ Er trat noch mal gegen den Ball, kickte ihn aus dem Gebüsch und dann voll Karacho gegen die nächste Häuserwand.

Was dann geschah, verschlug Flavio den Atem: als der Ball auf die Wand traf, platzte er mit einem lauten Knall auf und ein riesiger Feuerstrom bedeckte kurz das gesamte Haus, bis hinauf aufs Dach. „Hui!“, machte Flavio, hob die Hände und hielt sie sich vors Gesicht. Aber der Feuersturm war schon vorüber, ebenso schnell verflogen wie Flavios Wut. Stattdessen hatte Flavio ein bisschen Angst.

Vorsichtig nahm er die Hände wieder herunter und schaute sich um. Er sah keinen anderen Menschen auf der Straße, aber er sah–.

„Nein“, sagte Flavio. „Das kann doch nicht sein.“

Aber es war so: da, wo der Ball auf die Wand getroffen war, stand jetzt–.

„Nein“, sagte Flavio noch mal. „Das ist doch… Das geht doch nicht.“ Und dann rief er ganz laut, rief den Namen seines Lieblingspokémons. „Lohgock! Lohgock!“

Da, wo der Ball auf die Wand getroffen war, stand Lohgock. Lohgock, das Riesenhuhn, Lohgock, der lohdernde Gockel, Lohgock, das Feuerwesen, Lohgock in Schlaghosen und verrückter Frisur.

Lohgock, ein Pokémon.

„Lohgock!“, rief Flavio noch mal und ging einen Schritt auf ihn zu.

„Muss kämpfen!“, sagte Lohgock und rieb sich die Augen. Dann schüttelte er sich, schaute auf, sah Flavio. „Kämpfen!“

„Ha-hal-hallo“, stotterte Flavio. Er war ganz aufgeregt und war sich nicht sicher, ob er träumte. Gerade eben war er wütend gewesen, hatte nach dem Ball getreten, der Ball war explodiert, und hier stand Lohgock. „Aber du bist doch… dich gibt’s doch nur…“

Lohgock, wenn er es denn war (aber vorerst wollen wir ihn Lohgock nennen, denn so tat Flavio es auch), schaute sich verdutzt um. „Auf welchem Level bin ich?“, fragte er.

„Du bist in Friedrichshain“, sagte Flavio. Er zeigte die Straße entlang. „Das da vorne ist der Traveplatz.“

„Trave–?“

„Traveplatz“, wiederholte Flavio. Er zögerte. Vielleicht war es unhöflich zu fragen, aber er musste es wissen. „Bist du wirklich Lohgock?“

Lohgock nickte abwesend.

„Lohgock!“, sagte Flavio erstaunt. „Ich bin Flavio. Hallo.“

„Muss kämpfen“, erwiderte Lohgock.

„Ne-ein“, sagte Flavio. „Ich meine, du bist doch hier in Friedrichshain. Das da vorne ist der Traveplatz“, sagte er noch mal.

„Flavio“, sagte Lohgock und schaute ihn an.

„Ja. Das ist mein Name“, bestätigte Flavio. Plötzlich kriegte er wieder Angst. Lohgock schien ihm etwas komisch zu sein, gar nicht so, wie in den Spielen. Aber– „Kannst du Feuer machen?“, fragte er.

„Ja! Kämpfen!“, sagte Lohgock und schleuderte eine Handvoll Flammen von sich.

„Vorsicht!“, rief Flavio, aber es war zu spät. Das Haus, das schon bei der Explosion des Balles kurz in Flammen gehüllt gewesen war, verschwand erneut hinter einem Vorhang aus Feuer. „Da wohnen doch welche drin!“

„Muss kämpfen“, wiederholte Lohgock, aber er hörte doch auf, Feuer zu schleudern. Die Flammen aus seinen Händen erstarben so schnell, wie sie gekommen waren; und auch das Feuer an der Häuserwand erlosch. Im obersten Stockwerk wurde ein Fenster aufgerissen.

„Was war das denn? Silvester im Juni? Ha, ha!“ Laut lachte eine Stimme aus dem Haus auf die Straße herunter.

„Komm, lass uns gehen“, sagte Flavio. „Bevor der uns sieht!“ Er griff nach Lohgocks Hand und zog daran. „Mach schon, schnell!“

Jetzt schob sich ein Kopf durch das geöffnete Fenster und neugierige Augen blickten auf sie herab. Lohgocks Hand war warm.

Trotzdem ließ Flavio sie nicht los, sondern zog weiter daran. „Jetzt komm schon!“, drängte er und lief los. Lohgock ließ sich ziehen, folgte ihm willig. Bald rannten sie.

„Wir können zu mir nach Hause,“ sagte Flavio, sobald sie die nächste Straßenecke erreicht hatten und dahinter verschwunden waren. Er wollte kurz ausruhen; seine Beine waren doch recht kurz im Vergleich zu denen Lohgocks.

Lohgock nickte und blieb ebenfalls stehen. „Wo ist das?“, fragte er dann. „Zuhause?“

Das wusste Flavio auch nicht – welches Zuhause war besser in so einem Fall? „Erst mal da lang“, sagte er und zeigte vage die Straße entlang. Er überlegte.

In der neuen Wohnung wartete Kad; was würde sie zu Lohgock sagen? Und Malte war auch da, sein kleiner Bruder. Das ging also nicht. Aber Philip? Der war bestimmt noch auf Arbeit und die Wohnung leer.

„Wir müssen doch in die andere Richtung“, sagte Flavio. „Da lang.“ Er zeigte zurück, auf die Straße, aus der sie gerade gekommen waren, die Straße mit dem brennenden Haus. Ob es wirklich nicht mehr brannte?

Bevor er sich darüber Sorgen machen konnte, lief Lohgock schon los. Flavio folgte ihm. „Lauf nicht so schnell, bitte!“, rief er dabei, aber Lohgock schien ihn nicht zu hören. Der Abstand zwischen ihnen wurde größer und größer. „Bleib stehen!“, rief Flavio, doch Lohgock lief nur um so schneller.

Plötzlich, mitten im Lauf, sprang er hoch, einfach so. Er sprang und sprang, aber eigentlich sprang er nur einmal – nur sprang er so unglaublich hoch, dass Flavio seinen Augen kaum traute. „Woah!“, rief er, als Lohgock wieder gelandet war. „Das war ja hoch! Mindestens fünf Häuser hoch!“ Und damit übertrieb er nicht mal.

Lohgock sprang gleich noch mal, und noch mal, und noch ein viertes Mal. Zwischen den Sprüngen murmelte er: „Muss kämpfen!“, immer und immer wieder. Nach dem letzten Sprung landete er direkt neben Flavio. „Musste kämpfen“, wiederholte er, wie zur Erklärung.

„Lohgock, das war aber hoch.“ Flavio war begeistert. „Kann ich mal mitspringen?“

Lohgock nickte. „Komm“, sagte er. „Wo ist dein Zuhause? Wir springen dahin.“

„Ja“, sagte Flavio und war jetzt ganz aufgeregt. “ Springen wir wirklich?“

Lohgock nickte.

„Ja!“, sagte Flavio und hob die Hand. Er zeigte die Straße entlang. „Da lang. Siehst du da vorne die Kreuzung? Springen wir wirklich?“

Lohgock nickte erneut.

„Woah!“, sagte Flavio. Dann fuhr er fort: „Da vorne die Kreuzung, und dann noch zwei, und dann müssen wir nur noch auf die andere Straßenseite. Über die vielen Autos.“

Lohgock hörte der Erklärung aufmerksam zu, dann hob er Flavio hoch, nahm ihn Huckepack und sprang.

„Jaaaa!“, schrie Flavio mitten in der Luft. „Jaaaa! Höher, Lohgock, höher!“

Und Lohgock sprang höher und höher und höher, und dann gleich noch mal. Und noch mal und noch mal und noch mal, denn Flavio fand das Springen toll und feuerte ihn an. „Weiter, Lohgock, noch mal!“, schrie er von Lohgocks Rücken aus in dessen Ohr. „Höher! Höher! Höher!“

Schließlich schien Lohgock müde zu werden; seine Sprünge wurden kleiner. „Du“, schnaufte er, „wo lang müssen wir noch mal?“

Flavio schaute sich um. Von hier oben, und dann wieder unten, und dann wieder oben, sah Friedrichshain ganz anders aus. Lohgock landete in Hinterhöfen, in denen er noch nie gewesen war; er sprang auf Dächer und wieder herunter und wieder hinauf und über Straßen hinweg. Nicht nur einmal hatte er Stromleitungen ganz knapp verfehlt, aber weder ihm noch Flavio bereitete das Sorgen.

„Ich… weiß nicht genau“, gab Flavio zu, nachdem er ein paar Sprünge lang versucht hatte, sich zu orientieren. „Oder, wart mal. Da ist die S-Bahn, das ist die Frankfurter Allee. Wir sind im Kreis gesprungen. Komm, dann müssen wir hier lang“, sagte er und zeigte Lohgock den Weg.

„Ende kämpfen“, sagte Lohgock. „Wir laufen den Rest.“

„Oh“, machte Flavio. „Schade!“ Aber eigentlich war er ganz froh, eine Pause zu haben vom vielen Springen. Ihm war schon ein kleines bisschen schwindelig geworden, aber zugeben würde er das nicht.

Lohgock landete ein letztes Mal, wieder in einem Hinterhof, hob Flavio vorsichtig über seinen Kopf hinweg und setzte ihn auf dem Boden ab.

„Das war toll“, sagte Flavio, und ganz schnell umarmte er Lohgock. „Das war toll!“, wiederholte er. „Danke!“

„Gern geschehen“, sagte Lohgock. „Jetzt bin ich müde.“

„Ja“, sagte Flavio, „wir sind ja gleich da. Komm.“

Hand in Hand verließen sie den Hinterhof.

Auf der Frankfurter Allee waren viele Menschen. Einige kicherten, als sie Flavio und Lohgock sahen, nicht wenige blieben stehen und drehten sich nach ihnen um. Und
ein-, zweimal war es Flavio so, als hörte er ein Kind erstaunt „Lohgock!“ rufen. Er wurde nervös.

„Komm schneller“, sagte er und zog an Lohgocks Hand. „Die schauen uns alle an.“

Lohgock kam schneller, obwohl er müde war, und bald lief er so schnell, dass Flavio kaum mit ihm Schritt halten konnte. Trotzdem sagte er nichts. Er wollte nach Hause. Er wollte nicht mehr, dass die Leute ihn anstarrten, ihn und Lohgock, als wären sie ganz komisch, oder verrückt. „Schneller, schneller, nach Hause“, feuerte er sich selber an – er hatte schon Seitenstechen vom Rennen.

Schließlich schafften sie es und schlossen die Tür hinter sich.

„Puh“, machte Flavio. Er war erschöpft. „Was machen wir jetzt?“

„Kämpfen“, sagte Lohgock.

„Nein“, sagte Flavio. „Ich bin müde. Man kann doch nicht immer nur kämpfen.“

Aber Lohgock war erneut voller Energie. „Muss springen. Muss kämpfen“, sagte er. Und schon sprühten seine Hände Feuer.

„Nein!“, rief Flavio. Er überlegte ganz schnell. „Die Badewanne! Komm!“ Er rannte durch den Flur ins Bad. „Komm schon, komm!“

Lohgock kam hinterher und entfachte auf dem Weg nur drei kleine Feuerchen: er kokelte einen Schal an der Garderobe an, der zum Glück nicht richtig Feuer fing; er verbrannte eine CD, die fürchterlich anfing zu stinken; und schließlich entzündete er eine Kerze in ihrem Leuchter an der Wand.

„Ins Bad!“, rief Flavio erneut. „In die Wanne!“ Schon ließ er Wasser einlaufen. „Halt deine Hände einfach da drunter.“

Aber das wollte Lohgock nicht. „Es sind doch meine Feuerhände.“

„Dann lenk den Feuerstrahl ins Wasser.“ Flavio schwitzte. Wenn das nun nichts helfen würde? „Los doch!“

Es zischte und dampfte und brodelte, als Lohgock seinen Feuerstrahl in den Wasserstrahl lenkte. Kein einziger Tropfen aus dem Hahn schaffte es bis auf den Boden der Wanne – jeder einzelne verdampfte schon in der Luft, getroffen von Lohgocks Feuer. Der Wasserhahn selbst sah aus, als würde er gleich anfangen, von der Hitze zu schmelzen. Und noch immer sprühten Lohgocks Hände Flammen.

„Hör auf! Kannst du nicht aufhören?“

Lohgock antwortete nicht, er schüttelte nur verbissen den Kopf. Er konnte es nicht, versuchte es aber, das sah Flavio ganz deutlich. Flavio drehte auch das Wasser im Waschbecken an und rannte schließlich zum Fenster und öffnete es. „Und da hinaus. Du kannst da hinaus feuern. Hoch in den Himmel.“ Zum Glück standen keine Bäume direkt vor dem Fenster.

Lohgock nickte und sandte seine Feuerstrahlen abwechselnd unter die zwei Wasserstrahlen und raus in die Luft. Trotzdem sah es eine Weile lang so aus, als ob es nicht klappen würde. Es roch verbrannt und einige Wäschestücke auf dem Ständer qualmten. Flavio griff sie und warf sie in die Wanne, bevor sie so richtig zu brennen anfingen.

Schließlich beruhigte sich Lohgock; das Feuer aus seinen Händen versiegte. Flavio ließ das Wasser noch laufen, über die Wäschestücke, und er lief auch in den Flur, holte den Schal und die CD und warf sie dazu. Puh, stank das!

„Lohgock, was machen wir nur?“, fragte er.

Lohgock wusste es nicht.

„Wenn das wieder passiert…“, fing Flavio an, aber er wusste nichts weiter zu sagen. Wenn das wieder passierte, und wieder und wieder, musste er wohl die Feuerwehr holen. Oder mit Lohgock ans Meer.

„Ja!“, sagte Flavio. Das war eine gute Idee. Aber das Meer war weit. Lohgock konnte zwar springen, aber nicht so weit, das hatte er ja gesehen. Für einmal quer durch Friedrichshain reichte es wohl, aber nicht bis an die Ostsee.

„Hmm“, überlegte Flavio laut. „Gibt es kein Meer in Friedrichshain?“

„Doch“, sagte Lohgock. „Ich habe eins gesehen beim Springen. Ein sehr dünnes Meer.“

„Du meinst die Spree. Das ist kein Meer. Das ist ein Fluss.“

„Ach so“, machte Lohgock.

Aber Flavio dachte, dass auch ein Fluss funktionieren würde. „Lohgock“, fragte er. „Wie oft musst du kämpfen?“

„Pause“, sagte Lohgock. „Muss aufladen. Zwei Stunden.“

Flavio nickte zufrieden. Zwei Stunden war eine Menge Zeit, um von hier an die Spree zu kommen. Da konnte er getrost noch etwas essen, er war sehr hungrig. „Komm“, sagte er. „Wir gehen in die Küche. Wir braten ein Würstchen.“

Und damit stellte er den Wasserhahn der Wanne ab, schaute sich prüfend um und schmiss noch ein weiteres schwelendes Handtuch zu den anderen Sachen in die Wanne. Auf dem Weg zur Küche blies er die Kerze aus und war ganz zufrieden. Es stank immer noch fürchterlich, aber brennen tat jetzt nichts mehr.

In der Küche holte er die Würstchen aus dem Kühlschrank. Er mochte Würstchen und briet sie sich schon lange selbst.

Aber jetzt konnte er den Herdanzünder nicht finden, und auch kein Feuerzeug. „Mensch, Philip“, sagte er laut. „Wo hast du die bloß wieder hingetan?“ Denn Philip verlegte oft Feuerzeuge und andere Sachen. Nur diesmal hatte er nicht wirklich Schuld; das Feuerzeug war beim Chaos des Umzugs abhanden gekommen, hinter die Spüle gefallen, um genau zu sein. Aber Flavio wusste das natürlich nicht; Flavio war verzweifelt.

„Wie kriege ich denn jetzt den Gasherd an?“, weinte er fast. Manchmal, wenn er sehr hungrig war, wurde er weinerlich. Sobald er was aß, würde es besser werden, das wusste er. Aber kalte Würstchen schmeckten doch nicht!

Zu allem Überdruss hörte er in diesem Moment auch noch, wie Lohgock wieder „kämpfen“ sagte.

„Nein, bitte, das ist viel zu gefähr–“, setzte er an, aber dann staunte er nur. Statt wild um sich zu schießen, sprühte Lohgocke sein Feuer gezielt auf den Herd.

Flavio klatschte in die Hände. „Warte, Lohgock“, sagte er dann. „Man muss hier noch aufdrehen.“ Und er griff zum Regler der vorderen Kochstelle, stellte auf „groß“ und zeigte auf den wartenden Brenner: „Dahin bitte.“

Lohgock tat wie gehießen, und – schwupp! – loderte die Flamme hell auf. Bald brutzelten die Würstchen in der Pfanne. Flavio hatte elf Stück hinein getan: vier für sich und sieben für Lohgock. Schließlich war Lohgock fast doppelt so groß wie er.

Als sie gegessen hatten, fragte Flavio: „Kannst du denn auch nur ein bisschen Feuer machen?“

Lohgock nickte.

„Hmm“, überlegte Flavio. „Und wenn du viele kleine Feuer machst, musst du dann keine großen Feuer mehr machen?“

Lohgock dachte kurz nach und nickte erneut.

„Toll!“, sagte Flavio. „Dann müssen wir ja gar nicht an die Spree.“ Er schaute sich um. „Hier, fang hiermit an, das Altpapier. Warte, wir gehen wieder ins Bad. Hier, nimm.“

Während Lohgock die Tüte mit Altpapier in der Wanne platzierte, brachte Flavio alles Brennbare aus dem Bad ins Nachbarzimmer. „Du kannst schon mal anfangen“, sagte er. „Oder nein, warte. Ich will doch zugucken. Hier, hilf mir mal mit dem Wäscheständer.“

Als das Bad so feuersicher war, wie es ging, drehte Flavio die Wasserhähne wieder auf. „Los jetzt!“, klatschte er in die Hände, und Lohgock ließ die Flammen lodern. Stück für Stück verbrannte das Altpapier.

„Woah“, machte Flavio, mindestens hundert Mal. „Woah!“ Er war begeistert. „Und jetzt“, sagte er, als das Altpapier alle war, „nehmen wie die Sachen, die der Philip sowieso nicht mitnehmen will in die neue Wohnung.“

Davon gab es so einiges, und nicht weniges davon brannte sehr gut: alte Bücher, dicke Hefter mit verjährten Unterlagen, auch hin und wieder ein Kleidungsstück. Lohgock verbrannte alles.

„Woah! Woah!“

Flavio fing gerade an, Sachen zusammenzusuchen, die noch nicht in den Kisten zum Wegschmeißen steckten (und vielleicht, nur vielleicht, auch nicht wirklich Sachen zum Wegschmeißen waren), als sich ein Schlüssel im Schloss drehte.

„Der Philip!“, rief Flavio und lief zur Tür. „Du bleib hier, versteck dich“, rief er Lohgock über die Schulter zu. Der nickte.

„Na, hier bist du“, begrüßte ihn Philip. „Die Kad hat sich schon Sorgen gemacht.“

Flavio nickte nur.

Philip schaute ihn genauer an. „Du guckst so schuldig“, sagte er. „Hast du was angestellt?“

„Nein, nein“, sagte Flavio.

„Gut“, sagte Philip und trat in die Wohnung. Er schnüffelte. „Was riecht denn hier so? Flavio – hast du was anbrennen lassen?“

„Ach, das kommt bestimmt von den Würstchen“, sagte Flavio. „Ich hab mir Würstchen gebraten.“

„Ach so?“, fragte Philip und schnüffelte noch mehr. „Das riecht aber ganz anders als Würstchen. Das riecht nach einem echten Feuer.“

Flavio zuckte mit den Achseln.

„Flavio!“, sagte Philip. „Was hast du gemacht?“

Flavio antwortete nicht, aber er schaute unwillkürlich Richtung Bad.

„Dort hinten? Brennt’s da?“, fragte Philip und rannte los.

„Nein!“, rief Flavio ihm hinterher, aber Philip hielt nicht an. Flavio überlegte kurz, dann folgte er ihm.

Philip stand in der Tür zum Bad und schaute gebannt in die Badewanne und dem großen Aschehaufen darin. „Was ist denn hier passiert?“, fragte er fassungslos. Er drehte sich zu Flavio um. „Was war denn hier los?“

Flavio schaute zu Boden.

Philip drehte sich erneut zur Wanne. „Was–?“, fing er gerade wieder an, als es hinter der Wanne Bewegung gab. „Huh!“, machte Philip überrascht. „Ist da jemand?“

„Nein“, sagte Flavio, aber Philip hörte nicht auf ihn. Eindeutig war da jemand: Lohgock war ein so großes Pokémon-Huhn, dass er nicht komplett hinter die Wanne passte. Sein Haar und Teile seines linken Beins lugten hervor.

„Du, komm da raus!“, rief Philip ganz tapfer.

Das Bein bewegte sich, stellte sich auf, und dann erhoben sich die ganzen 1,92m von Lohgock.

„Nein!“, sagte Philip fassungslos, als er ihn sah. „Das ist…“ Auch ihm fehlten die Worte, wie Flavio früher am Tag.

„Das ist Lohgock“, sagte Flavio ganz leise. „Ich habe ihn gefunden. Er verbrennt Papier.“

Philips Kopf fuhr herum. „Das sehe ich“, sagte er. „Aber was macht er hier? Wie kommt er hierher?“

„Aus einem Ball“, sagte Flavio.

„Aus einem Ball, ach so“, sagte Philip, und dann fing er an zu lachen. Lohgock und Flavio schauten ihn misstrauisch an. Nach einer Weile beruhigte sich Philip wieder. „Dann bring ihn mal schön in seinen Ball zurück“, sagte er dann. Er war sich nicht sicher, wer hier eigentlich spann. Aber das Wesen – „Lohgock?“, fragte sein Verstand immer und immer wieder. „Lohgock??“ – dahin zurückbringen, woher es gekommen war, erschien ihm eine gute Idee.

„Aber Philip“, fing Flavio an. „Er kann doch hierbleiben. Er muss nur ab und zu mal was verbrennen, sonst gerät das außer Kontrolle.“

„Außer Kontrolle“, wiederholte Philip. „Aha. Nein“, sagte er dann entschieden.

Flavio versuchte es noch mal. „Wir können zu Kad gehen, sie hat doch jetzt die ganzen Umzugskartons. Die kann Lohgock als Nächstes verbrennen.“

„Als Nächstes verbrennen“, wiederholte Philip auch diesmal Flavios Worte.

„Ja!“, nickte Flavio ganz enthusiastisch.

Philip schwieg eine Weile. „Nein“, sagte er dann. „Die brauche ich für mich selbst. Ich zieh doch auch bald um.“ Mehr fiel ihm nicht ein.

Jetzt schwieg auch Flavio.

Es war Lohgock, der schließlich sprach. „Ich muss sowieso zurück“, sagte er. „Ich kann immer nur einen Tag lang außerhalb der Pokémon-Welt sein.“

„Nur einen Tag? Das hast du mir nicht gesagt!“ Flavio schaute ihn an. „Nur einen Tag!“

„‚Immer nur‘ einen Tag, hab ich gesagt“, beschwichtigte Lohgock. „Ich kann wiederkommen, für immer einen Tag.“

„Ja?“, freute sich Flavio und überlegte ganz schnell. „Philip“, fragte er dann. „Wann fahren wir wieder ans Meer?“

„In den Ferien“, antwortete Philip und schüttelte den Kopf, um ihn zu klären. Da stand doch nicht wirklich ein Pokémon…

„Gut“, sagte Flavio. Dann schüttelte er Lohgocks Hand, ganz feierlich. „Abgemacht, wir sehen uns wieder, in den Ferien, am Meer.“ Eigentlich war er ein bisschen erleichtert – hier war es doch kompliziert gewesen mit all den Feuern. Aber am Meer…

… da stand doch nicht wirklich ein Pokémon, kreisten die Gedanken in Philips Kopf, und redete davon…

„Am Meer“, nickte Lohgock. „Wir sehen uns wieder am Meer.“

… redete davon, ans Meer zu fahren?

Philip wurde ohnmächtig.

Als er wieder zu sich kam, kniete Flavio über ihm und spritze ihm Wasser ins Gesicht. „Du hast mich erschreckt“, sagte er vorwurfsvoll.

„Entschuldige“, sagte Philip und schaute sich um. Kein Lohgock. Philip atmete auf. Alles nur Spinnerei, dachte er. Kein Lohgock. Kein Feuer. Kein–

Doch Feuer, teilte ihm seine Nase mit, und recht hatte sie. Es roch noch immer nach verbranntem Papier. Nach viel verbranntem Papier. Philip richtete sich auf.

Da war die Wanne, voller Asche. Da waren Schmauchspuren überall an den Wänden. Und schließlich war da Flavio, der aufgestanden war, sobald er gesehen hatte, dass es Philip besser ging, und jetzt am Fenster stand und winkte. Philip trat zu ihm.

Draußen zog sich eine feurige Spur über den ganzen Abendhimmel. Hoch und runter führte sie, im Zickzack von unten nach oben und wieder zurück, in Kurven durch die Stadt, von hier ins Unendliche. Lohgocks Feuerspur. Und aus der Ferne hörte er ihn rufen: „Kämpfen!“

Neben ihm legte Flavio die Hände um den Mund, bildete so einen Schalltrichter und rief zurück, so laut er konnte: „Kämpfen!“ Dann rief er noch, „Bis zum Sommer!“, nahm dann die Hände wieder herunter, wischte sich eine Träne ab und winkte noch mal. „Stimmt’s, Philip?“, wollte er wissen.

„Stimmt“, sagte Philip und winkte dann auch.

PS: Sachen in der Wanne verbrennen geht nur in einer Geschichte gut – also bitte nicht nachmachen!


bestellt von: Philip, 38
bestellt für: seinen Sohn Flavio, 10


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