„Analog“

Das waren die Vorgaben zur Geschichte – „Analog“ -> So sollte es werden

Und hier nun die Geschichte selbst:

Analog

I

Mein neues Leben begann in einer Schublade, inmitten eines Erdbebens, so schien es mir. Ich lag dort ruhig, seit Jahren im Dunkeln und ungestört, als auf einmal der Boden unter mir wegzurutschen schien, nach vorne zu rutschen, hin zu Helligkeit, hin zu Geräuschen.

"Ah, da ist er ja!"„Ah, da ist er ja“, war das Erste, was ich hörte. „Dacht ich’s mir doch.“

Dann bebte auch alles über mir – die Packung Papiertaschentücher, drei Schnippsegummis, die schon so alt waren, dass sie im Laufe der Jahre ineinander verschmolzen waren, sogar etwas an mir festklebten und mir wohl dadurch an mein kleines Rechnerherz gewachsen waren. Diese drei Gummis wurden jetzt gezogen, erhoben, von mir getrennt. Geburtsschmerz.

„Iih“, hörte ich, aber ich fand die Gummis gar nicht „iih“, eklig, wie wohl schon klar geworden sein dürfte. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wie sehr ich die Gummis eigentlich mochte, wie vertraut mir ihre Klebrigkeit an meinem unteren Ende geworden war, fuhren Finger auf mich herab, auf den Gummi, kratzten, zogen, entfernten. „Iih.“

Ja, richtig, so fühlte ich mich auch. Was war denn los? Was sollte diese Ruhestörung, so plötzlich, unerwartet?

Ich wurde hochgehoben, aus der Schublade herausgezogen, vorbei an einem Stapel Haftnotizen, zahlreichen Büroklammern, die zwar alle gleich aussahen, aber doch jede ihre eigene Persönlichkeit hatten, vorbei an drei Stiften. Einen davon mochte ich überhaupt nicht – er hatte sporadisch Tinte auf mich gekleckst. Den Verlust seiner Gesellschaft bedauerte ich nicht, aber die anderen zwei? Ein blauer, ein grüner – weg, weg; sie entschwanden. Oder vielmehr: ich entschwand, entschwand der Schublade, kam ans Licht der Welt. Endlich.

Endlich sage ich, da trotz der Ruhe, die ich jahrelang hatte, trotz der Heimlichkeit meiner jahrelangen Umgebung, trotz der immer gleichen Monotonie … nun, vielleicht nicht trotz, sondern deswegen, deswegen war ich doch froh, zu entkommen. Ich wollte wissen, was sich in der Welt getan hatte. Mein letztes Leben lag Jahre zurück, Jahrzehnte wohl eher: die Hand, die mich hob, gehörte Gabi und an Gabi erinnerte ich mich. Die Gabi, an die ich mich erinnerte, warAls Kind allerdings viel jünger gewesen als diese hier. Sie war ein Kind gewesen, genaugenommen. Hatte mit mir gespielt, Tag für Tag, mit mir gerechnet.

Jetzt war Gabi kein Kind mehr. Ich fragte mich kurz, wie alt sie jetzt war – dreißig schätzte ich, oder vierzig? Ich rechnete schnell (rechnen war schließlich meine Berufung). Fünfzehn Jahre mindestens, wenn Gabi jetzt dreißig war; aber auch fünfundzwanzig mögliche Jahre (falls Gabi jetzt vierzig war) lagen hinter mir seit meinem letzten – nun ja, nennen wir es „Besuch der Welt“. Oder auch „Leben“.

„Achtundzwanzig Jahre“, sagte Gabi da plötzlich, als sie mich so betrachtete. „Ja. Ich glaube – ich muss so fünfzehn gewesen sein, als ich..“

Du meine Güte, dachte ich. Länger als ich gedacht hatte. Kurz wurde mir schwer ums Herz, aber gleich darauf freute ich mich für Gabi – sie sah also jünger aus als sie war. Und ich konnte offensichtlich immer noch gut rechnen.

„Hach“, machte Gabi und legte mich auf den Tisch. Dann sagte sie erst mal nichts mehr, sondern schaute mich einfach an.

II

Ich musste wohl weggedöst sein – plötzliche Sonne, so viel Luft, ach, erholsam – denn neben Gabi lag nun ein Schwamm, meine blaue Hülle und ein Briefumschlag. Ich versuchte, schnell zu überlegen, was das zu bedeuten hatte, aber im Überlegen bin ich nicht so gut. Ich brauche Zahlen, um zu glänzen.

saubermachenUnd schon fing Gabi an, an meinem Unterteil rumzuschrubbeln, da wo der Kuli – ein schneller Widerwille beim Gedanken an ihn überzog mich – mich bekleckst hatte.

„Musst wieder schick sein“, sagte Gabi, und dann fing sie an zu summen. Ich erkannte die Melodie. „Hänschenklein“, fiel mir ein, „ging allein“. Und schon öffnete Gabi den Mund und sang: „… in den tiefen Wald hinein“. Ach, war das schön! Ich mochte das Lied, liebte es. Mit einem Schlag kamen alle Erinnerungen zurück: ich und Gabi in ihrem Zimmer, sie über ihr Matheheft gebeugt, Blickwechsel vom Heft zu mir, sie berührte mich, schob meinen Läufer hin und her, nickte, sang lauter, schaute wieder zum Heft, schrieb das Ergebnis auf. Stundenlang. Manchmal argwöhnte ich, dass sie alles doppelt rechnete, ja dreifach – um sicherzugehen, dass das Ergebnis stimmte vielleicht, aber vielmehr doch eigentlich aus Spaß an der Sache.

Warum schob sie denn jetzt meinen Läufer nicht hin und her? Rechnete nicht? Sie schrubbte nur, machte mich sauber. Vielleicht danach?

Aber danach trocknete sie mich einfach ab und griff nach meiner Hülle.
Ab in die Hülle
„Nein! Nein!“ Ich wollte nicht wieder da hinein. Es hatte mich Jahre gekostet, dort herauszukommen. Einige Umzüge waren mir zu Hilfe gekommen – da war der Schreibtisch immer so durchgeschüttelt worden, und ich in ihm, in der Hülle, dass ich mich durch leichtes Hin- und Herzucken doch aus dem blauen Monstrum befreien konnte. Jahrelange Arbeit, wie gesagt. Beim ersten Umzug hatte ich es nur halb geschafft, steckte fest, halb in, halb außerhalb der Hülle, als schließlich der Schreibtisch wieder bewegt wurde und noch mal, und dann noch ein letztes Mal. Ich glaube, nicht alles waren Umzüge von Haus zu Haus, aber doch zumindest von Ort zu Ort – der Schreibtisch wurde umgestellt, und ich mit ihm – und schließlich, endlich, war ich der Hülle entkommen. Ich mochte sie, sie sah gut aus, aber es war doch etwas beklemmend in ihr, so auf Dauer. Und jetzt sollte ich dahinein zurück? Ich wehrte mich.

„Lass mich los!“, dachte ich ganz laut, ganz fest – und Gabi tat es. Sie legte mich zurück auf den Schreibtisch und schaute mich stirnrunzelnd an.

„Erst mal sehen, ob du noch funktionierst“, sagte sie.

Erleichtert atmete ich auf. Gleich würde sie wieder summen – und dann – und dann…

Aber Gabi holte kein Matheheft aus der Tasche, auch sonst sah ich nirgendwo zu lösende Rechenaufgaben. Ich spannte mich etwas an, unwillkürlich.

Und richtig – Gabi schob meinen Läufer einfach so etwas hin und her. Ohne Sinn und Zweck, ohne Aufgabe, ohne Elan, ohne Enthusiasmus.

„Geht schon etwas schwer“, sagte sie und schob weiter an mir herum.

„Nein, nein, rechnen musst du!“, dachte ich wieder, so laut und so dringend ich konnte.

„Hmm“, machte Gabi. „Mal sehen.“ Sie schaute kurz aus dem Fenster. Ihre Hände schoben weiter an mir herum.

„Komm schon, komm schon. Irgendwas musst du doch rechnen wollen. Schieb nicht einfach so an mir rum. Rechne!“, dachte ich. Laut, laut, lauter. „Rechne! Errechne irgendwas. Vielleicht–“

„Vielleicht ein letztes Rechnen mit dir“, sagte Gabi da. „Wenn ich den Gartenzaun neu streichen will, wie viele Liter Farbe braucht das?“, fragte sie dann.

Ja, ja, genau! Flächenberechnung. Oh ja. Ich stöhnte vor Wonne. Sie wollte tatsächlich mit mir rechnen. Ob ich das…? Ich überlegte (wie gesagt, ich bin nicht der Schnellste im Überlegen), ob ich das veranlasst hatte. Konnte ich Wünsche beeinflussen? War es gar nicht Gabi gewesen, damals, als Kind, die immer und immer wieder hatte nachrechnen wollen?

Mir war so, als hätte ich damals am Ende jeder Aufgabe gejubelt und „Noch mal, noch mal!“ vor Freude, vor Wonne gerufen.

Gabi beeinflusst?

Gartenzaun berechnen„Zwei Liter für den Erstanstrich“, sagte Gabi gerade.

„Noch mal, noch mal!“, rief ich ihr in Gedanken zu. Gabi beeinflussen?

„Stimmt das?“ überlegte Gabi. „Zwei Liter nur? Ich rechne lieber noch mal.“

Ich war baff. Ja, ich konnte Gabi beeinflussen.

„Und den Rasen!“, rief ich, sobald sie mit dem Berechnen der Farbe für den Zaun fertig war. „Wie viele Säcke Grassamen? Wie viele Quadratmeter ist der Rasen überhaupt?“

Knifflige Aufgabe – es gab Beete und Büsche, die rauszurechnen waren, und einen Wäscheplatz und und und – das würde lange dauern, das zu berechnen.
Sonne und Wonne
„Oh ja“, stöhnte ich, wie früher vor Wonne (Gabi summte auch wieder), aber dann muss ich eingeschlafen sein, so entspannt – rechnen und Sonne und Luft.

III

Als ich wieder Im Briefumschlagerwachte, befand ich mich in der blauen Hülle. Zu vertraut waren mir deren Formen, um mich da zu irren. Und die Hülle befand sich… ich konnte es nicht genau sagen. Unterwegs waren wir, in einem Auto wohl. Motorengedröhn, später Ruckeln. Entladen, ich in der Hülle in einem Briefumschlag, jetzt fiel er mir ein – auf dem Weg zu… ich wusste es nicht. Ich dämmerte weg.

IV

Noch später war wieder Ruhe, Ruhe von Bewegung. Ich lag still. Sonst herrschte wenig
Ruhe – Türenschlagen, ein Radio lief, eine Mädchenstimme.

„Guck mal! Ich hab Post!“

Ich wurde hochgehoben, der Umschlag. Der Umschlag wurde aufgerissen, ich fiel fast heraus.

„Vorsicht!“, dachte ich.

„Ups. Vorsicht“, sagte das Mädchen und fing mich in meiner blauen Hülle auf, bevor wir zu Boden fallen konnten. Ich wurde gedreht und gewendet und schließlich aus der Hülle gezogen.

Ein Mädchen, Tatsache.

"Uh, was für Mathe."Wer bist denn du?“, dachte ich.

„Was ist denn das?“, fragte das Mädchen.

Ein Rechenstab, dachte ich leise, sieht doch jeder.

Dann fasste das Mädchen noch mal in den Umschlag und zog einen Brief heraus. Sie las.

„Ein Rechenstab?“, sagte sie schließlich und schaute mich mit großen Augen an. Doch die Begeisterung über mich verschwand ziemlich rapide. „Uh, was für Mathe“, sagte das Mädchen, rümpfte die Nase, legte mich auf den Tisch und verließ den Raum.

Das fing ja gut an.

V

Eine ganze Woche lang blieb ich unbeachtet und konnte mich an meine neue Situation gewöhnen. Zumindest hatte mich das Mädchen nicht wieder in die Hülle geschoben. Freddy hieß sie, jedenfalls hatte ich öfter gehört, dass sie so gerufen wurde: „Freddy, Essen!“ oder „Freddy, Schlafengehen!“ Freddy dies und Freddy das.

Ich wünschte mir, dass mal jemand „Freddy, Mathe!“ rief.

Nach einer Woche, wie gesagt, wurde mein Wunsch erhört. Freddy beugte sich über mich.

„Und das soll gehen?“

„Ja, ja,“ dachte ich. Ich hatte keine Lust mehr, einfach so unnütz herumzuliegen. „Tu was!“ dachte ich. „Was auch immer. Tu was!“

Und Freddy tat was. Sie schob meinen Läufer hin und her.

"Gibt's da auch ein System?"„Wie wär’s mit etwas System?“, dachte ich.

„Gibt’s da auch ein System?“, fragte Freddy und hielt inne. „Geht ein bisschen schwer, sowieso“, sagte sie.

„Na, eingerostet“, dachte ich laut.

„Bestimmt eingerostet“, sagte Freddy.

Klappte ja prima mit der Verständigung.

Ich versuchte es gleich noch mal. „Ich bin ja auch aus Metall“, dachte ich, so laut ich konnte.

„Ist ja auch aus Metall“, sagte Freddy prompt.

„Eingerostet“, wiederholte ich.

„Eingerostet“, wiederholte sie.

„Jetzt aber los“, dachte ich.

„Tja“, sagte Freddy. Und dann wiederholte sie: „Eingerostet.“

Oh, ah, ich verstand: Freddy war auch ein bisschen eingerostet. Hmm. Ich überlegte, nicht allzu schnell – habe ich das schon erwähnt? – aber so schnell ich konnte. Freddy musste auch ein bisschen hin- und hergeschoben werden. Sie schaute mich immer noch skeptisch an.

„Sinus, Kosinus, Tangens?“, überlegte ich. Nein, zu kompliziert. Etwas Einfaches für den Anfang – Fläche, genau. Das war ja auch Gabis erste Aufgabe gewesen nach ihrer langen Pause. Fläche.

Freddy kam mir zu Hilfe, indem sie mich wieder aus der Hand legen wollte – nur wohin?

„Ach, ist der schon wieder voll“, stöhnte sie. „Überhaupt kein Platz hier auf dem Schreibtisch.“

Platz. Schreibtisch. Das war doch auch nah am Leben. Und einfach genug.

„Wie viel Platz ist denn hier überhaupt so auf dem Schreibtisch?“, dachte ich, beeinflusste ich, so doll ich konnte.

„Null Platz“, antwortete Freddy wie aus der Pistole geschossen.

Ach. Clever. Und Recht hatte sie. Das musste ich anders formulieren.

„Wie viel Platz wäre hier, wenn hier aufgeräumt wäre?“, fragte ich.

Auf dem Schreibtisch„Bah, aufräumen“, machte Freddy, schnaubte kurz durch die Nase, legte mich auf den größten Haufen auf ihrem Schreibtisch und verließ schnurstracks das Zimmer.

Das musste ich wohl noch üben.

VI

Noch eine Woche später spielte Gabi mir in die Hände.

„Uh, Matheaufgaben“, stöhnte Freddy, als sie ins Zimmer kam. „Soll ich zurückschicken an Gabi. Oh nee.“

„Oh ja!“, machte ich. „Am besten noch heute!“

„Und das noch heute“, sagte Freddy.

Wir schienen gut im Einklang zu sein.

„Na dann los“, drängte ich, und Freddy setzte sich an den Schreibtisch.

„Mal sehen“, sagte sie, und dann: „Prozentrechnung. Na klasse.“

„Na klasse“, sagte ich auch, nur war mein Tonfall viel freudiger. Ich hoffte, auch ansteckend.

Meine Freude wurde gedämpft, empfindlich gedämpft, als Freddy statt mich aufzunehmen und ihre erste Aufgabe anzugehen, mich beiseite schob, gedankenlos beiseite schob.

„Mit dem Ding doch nicht“, murmelte sie, und ich brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass sie mich damit meinte. Als ich es dann doch begriff, war ich gekränkt, um so mehr, als ich sah, dass sie ihr Handy aus der Tasche nahm und anfing, dort Zahlen einzutippen.

„Nein, nein, nein“, schrie ich. „Das kann doch nicht wahr sein.“ Ich dachte so laut ich konnte, ich wollte Freddy beeinflussen.

„Nee“, sagte Freddy auch prompt. „Das kann nicht stimmen.“ Stirnrunzelnd schaute sie auf ihr Handydisplay.

Das Handy rechnet falsch„Genau: falsch! Falsch! Falsch!“ Ich ergriff meine Chance. „Das Ding rechnet falsch. Immer! Voll falsch!“

„Voll falsch, eh. Das Ding rechnet voll falsch.“ Freddy schaute ihr Handy verdutzt an. „Zwanzig Prozent von dem ist doch nicht fünfzig. Das kann ich sogar im Kopf. Zwanzig Prozent ist…“

„Los, los, los“, feuerte ich sie an.

„Vierzig. Genau. Zehn Prozent dann zwanzig.“

„Ja! Du brauchst das nicht!“, jubelte ich, beeinflusste ich.

„Hah. Ich brauch das gar nicht“, sagte Freddy, und dann plötzlich schaute sie mich an, hob mich hoch. „Na, und den? Wie soll das denn mit dem gehen?“

„Probier’s aus!“, schrie ich. „Hier – schieb mal, guck mal, ist ganz einfach.“ Ich murmelte Zahlen. „Vierzig, zwanzig. Hundert Prozent macht dann – na, schau doch, musst du nichts tippen. Mädel, du kannst es!“ Immer weiter laberte ich, in einem wahren Begeisterungssturm.

Aufgaben lösen„Hah! Nee, echt?“, machte Freddy unterdessen. Auch sie murmelte Zahlen vor sich hin. „Ein Viertel und davon noch mal die Hälfte. Ein Achtel, ja, und in Prozent…“

„Zwölfeinhalb, zwölfeinhalb.“ Das war ich.

„Zwölfeinhalb, zwölfeinhalb.“ Das war Freddy.

Und so ging es weiter, innerhalb von Minuten hatten wir alle Aufgaben gelöst.

Ich war gerade dabei, das erste Mal „Nachrechnen!“ Richtung Freddy zu denken, als das Handy klingelte.

„Puh“, machte Freddy, wie aus einem Traum geweckt, legte mich augenblicklich zur Seite und ging ran. „Du, echt schräg“, begrüßte sie den Anrufer und ging mit dem Handy ans Ohr gepresst aus dem Zimmer, bevor ich mehr hören konnte.

Das Handy, mein Todfeind.

VII

Ich sollte noch einen zweiten Todfeind kennenlernen, bevor ich überhaupt eine Strategie gegen den ersten entwickeln konnte: Freddys Taschenrechner. Den nutzte sie fast noch häufiger als das Handy, um so ganz einfache Sachen zu rechnen, wie – ja, schließlich hatte ich es geschafft – die Seitenkantenlängen ihres Schreibtischs zu multiplizieren, um so dessen Fläche zu errechnen. Ich war entsetzt, als sie ein Meter mal zwei Meter eintippte.

TodfeindeDas gab den Ausschlag – jetzt ging es nicht nur mehr um mich, sondern um Freddys Gehirn. Taschenrechner und Handy waren auch ihre Todfeinde, beschloss ich.

VIII

„Du, Gabi“, belauschte ich Wochen später einen Telefonanruf, den sie von ihrem Handy aus – Todfeind Nummer Eins, nun schon fast außer Gefecht gesetzt – führte. „Weißt du, es ist schon komisch. Ich hab immer Lust, alle möglichen Sachen zu rechnen, wenn, wenn…“ Sie kam ins Stottern, beschloss dann aber doch, es so zu sagen, wie es war. „…wenn ich den Rechenstab in der Hand habe. Also, zum Beispiel, wie viel Platz ich spare, wenn ich alle meine Bücher aufeinander stapele statt sie nebeneinander auf dem Schreibtisch liegen zu haben.“

Ah, der Schreibtisch. Ja, rund um den Schreibtisch hatten wir viel gerechnet.

„Aber dann“, redete Freddy weiter, „aber dann greif ich zum Handy, um es zu berechnen und hab plötzlich keine Lust mehr.“

Ja. Todfeind Nummer Eins – außer Gefecht gesetzt. Sag ich doch.

„Nur wenn ich zum Rechenstab greife, will ich’s wieder wissen. Dann plötzlich – ist es echt dringend. Spare ich einen halben Quadratmeter, oder null Komma sechs? Sechstausend Quadratzentimeter. Und wie viel Prozent vom Schreibtisch ist das? So was will ich dann wissen“, schloss sie.

Wollte ich wissen, berichtigte ich in Gedanken. Ich war ziemlich stolz auf meine Beeinflussungskünste.

„Was?“, fragte Freddy mittlerweile ins Telefon. „Wie viel Prozent es denn nun ist?“

„Ja!“, dachte ich. Gabi macht Nägel mit Köpfen.

„Wart mal“, sagte Freddy, „sag ich dir gleich. Muss ich eintippen.“

Sie schaute sich nach dem Taschenrechner um – mit dem Handy zugleich telefonieren und rechnen ging nicht – als ich und Gabi simultan riefen, bzw. dachten: „Nein, musst du nicht!“

„Muss ich nicht?“, fragte Freddy.

„Nein“, sagte Gabi, und ich sagte: „Sechstausend Quadratzentimeter verhält sich zur Gesamtfläche von zwei Quadratmetern wie x zu einhundert. Los, Freddy.“

Freddy wiederholte artig: „Sechstausend Quadratzentimeter verhält sich zu zwei wie x–“

„Stopp!“, unterbrach ich. „Sollte alles eine Einheit sein. Quadratzentimeter.“

„Alles Quadratzentimeter“, bestätigte Freddy.

„Und zwei Quadratmeter“, half ich weiter, „sind zwanzigtausend Quadratzentimeter.“

„Zwanzigtausend, genau.“

„Also.“ Ich fasste zusammen: „Sechstausend, zwanzigtausend, x und einhundert.“

„Sechstausend zu zwanzigtausend wie x zu einhundert“, sagte Freddy. Dann schwieg sie.

„Umstellen. Gleichung umstellen“, riet ich zum nächsten Schritt.

„Umstellen“, wiederholte Freddy, etwas fragend, und schielte zum Taschenrechner rüber.

„Im Kopf!“, schalt ich. „Über Kreuz auflösen.“

„Über Kreuz…“, fing Freddy zweifelnd an, dann fiel es ihr ein – ganz ohne meine Hilfe. Ich schwör’s – ich dachte kein einziges Wort, hielt den Atem an, sozusagen. Das war wie ein Test, ein Kannst-du-Kopfrechnen-Freddy?-Test.

Sechstausend, zwanzigtausend...Freddy konnte. „Sechstausend mal hundert durch zwanzigtausend und fertig“, sagte sie. „Sechstausend mal hundert, sechshunderttausend. Durch zwanzigtausend; einfach die Nullen weg, sechshundert durch zwanzig, sechzig durch zwei. Dreißig. Macht dreißig. Dreißig. Macht dreißig“, wiederholte sie fast ungläubig, sprach’s ins Telefon zu Gabi.

Die jubelte. Das konnte sogar ich hören, sogar von hier, wo ich lag. Und das war nicht in Freddys Hand. Freddy hatte das alles ganz alleine geschafft. Keine komplizierten Zahlen, zugegeben, keine schwierige Rechnung, aber Freddys Gehirn war gerettet, dachte ich.

„Dann kannst du mir ja den Rechenschieber wieder zurückschicken“, sagte Gabi wohl gerade, oder so was ähnliches jedenfalls, denn Freddy sprach empört in den Hörer: „Zurückschicken? Den Rechenschieber zurückschicken? Nee, also, ich meine, es ist deiner, ja, aber…“

Gabi beschwichtigte wohl; Freddy beruhigte sich. „Okay“, sagte sie, „Ja, danke. Ich mein– ja, bis Donnerstag, 18 Uhr. Uff“, machte Freddy, als sie auflegte. Dann schaute sie erst ihr Handy und dann mich ungläubig an.

„Konnte ich das schon die ganze Zeit?“, fragte sie, und ich nickte. Also so, wie Rechenschieber halt nicken – nicht sichtbar, nicht physisch, aber doch gedanklich, unterstützend. Ich nickte, was das Zeug hielt und Freddy dann auch.

„Wow“, sagten wir beide, dachten wir beide, das weiß ich genau.

Geht doch nichts über Hirnschmalz, dachte ich.

„Oder"Geht' doch nichts über..." Rechenschieber“, sagte Freddy, und ich vergab ihr auf der Stelle, dass sie ihr Handy mal lieber gemocht hatte als mich.

Dann nickten wir wieder, ganz müde, erschöpft, und schließlich nickten wir ein. Schluss für heute, Schluss bis Donnerstag kurz vor 18 Uhr, Schluss bis es weiterging mit der Mathematik.


bestellt von: Gabi, 43
bestellt für: ihre Mathematiknachhilfeschülerin Freddy, 8. Klasse


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